Offener Brief | Open Letter

Am 31.08.2022 haben wir den folgenden offenen Brief veröffentlicht.

HERE you find the open letter in English.

Offener Brief als PDF

Wir sind Menschen, keine Akten! 
 
Wir fordern: Bezieht die Perspektive der Betroffenen in die Gestaltung der Ausländerbehörde Erfurt ein!
 
Für Menschen, die in Erfurt ankommen oder schon längst angekommen sind, ist die Ausländerbehörde die wichtigste Anlaufstelle. Egal ob Austauschstudierende, Migrant:innen, Geflüchtete oder emigrierte Fachkräfte – die Ausländerbehörde ist für die Angelegenheiten, die sie betreffen, zuständig. Dazu gehören:
 
  • Administrative Tätigkeiten wie Ausstellen und Verlängern der Aufenthalts- und Reisedokumente, des elektronischen Aufenthaltstitels und einer Arbeitserlaubnis
  • Bürokratische Tätigkeiten rund um den Asylprozess und den weiteren Verlauf, das beinhaltet sowohl den Familiennachzug und die Niederlassungserlaubnis
  • Abschiebungen
  • Aufklärung über Handlungsmöglichkeiten bei all diesen Prozessen
Für das Leben der Betroffenen in Erfurt und Deutschland haben die Entscheidungen der zuständigen Ausländerbehörde eine große Bedeutung. Hier wird bestimmt, wie es mit ihnen weitergeht, ob sie arbeiten dürfen oder auch, wo sie sich überhaupt aufhalten dürfen. Wir haben mit dem (strukturellen und institutionellen) Rassismus der “Ausländerbehörde” grundsätzlich ein Problem – so wollen wir auch weiterhin nicht hinnehmen, dass und wie Abschiebungen in Erfurt stattfinden.
 
Unabhängig davon ist die Abhängigkeit von der Ausländerbehörde seit Jahren eine schwere Last auf den Schultern der Betroffenen, da die Behörde ihre Aufgaben nicht erfüllt. Einer der Gründe dafür ist, dass die Behörde chronisch unterbesetzt ist. Der Grund ist jedoch keine Entschuldigung für die Betroffenen, die als Folge starke Einschnitte in ihr Leben und ihren Grundrechten erfahren. Die Probleme der Ausländerbehörde dürfen nicht auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen werden!
 
Zahlreiche Betroffene können und konnten in den vergangenen Jahren keinen Termin mit der Ausländerbehörde vereinbaren: entweder, weil es an der Sprachbarriere scheitert, sich auf der ausschließlich deutschsprachigen Website zurechtzufinden, oder weil die Behörde schlichtweg keine Termine zur Verfügung stellt – weder am Telefon, noch per E-Mail, noch durch das extra eingerichtete Online-Terminportal der Stadt. 
 
Es ist naheliegend, dass viele der Antragsstellenden bei der Ausländerbehörde wenig Deutsch sprechen. Trotzdem herrscht dort nur Deutsch als Arbeitssprache. Gleiches gilt für die Antragsformulare und Belehrungen. Die Erfurter Ausländerbehörde kann über das Thüringer Landesprogramm der GFAW einfach und schnell Dolmetscher:innen in diversen Sprachen erreichen, der Aufwand ist verschwindend gering. Trotzdem wird von Betroffenen verlangt, eigene Dolmetschende zum Termin mitzubringen. Das ist unprofessionell und führt zu Übersetzungsfehlern – wieder zulasten der Betroffenen.
 
Betroffene Menschen haben extreme Probleme, andere Ämter und Behörden, insbesondere die Polizei, aber auch Vermieter:innen und Arbeitgeber:innen, von der Gültigkeit ihrer Dokumente, ausgestellt von der Erfurter Ausländerbehörde, zu überzeugen. Das bedeutet für die Betroffenen existenzielle Probleme: keine Wohnung, keine Arbeit, gegebenenfalls sogar festgenommen werden von der Polizei – nur weil das Dokument von der Ausländerbehörde nicht allgemein (an)erkannt wird. Hinzu kommt das Gefühl vieler Menschen, in der Gesellschaft nicht akzeptiert zu sein und die ständige Angst vor Polizeikontrollen, die so befeuert wird. All das führt zu einer starken psychischen Belastung für die Betroffenen und zu einer Einschränkung der eigenen Lebensweise. 
 
Fiktionsbescheinigungen (Nachweis, dass ein Aufenthaltstitel beantragt, aber noch nicht erteilt wurde bzw. noch „im Druck“ ist) werden zum Teil erst 1 1/2 Jahre nach Beantragung ausgestellt. Eigentlich sollte klar sein, dass so eine Fiktionsbescheinigung höchstens eine Übergangslösung darstellen sollte – doch beispielhaft sei auch der Fall einer Person genannt, die zwölf Jahre lang Fiktionsbescheinigungen von der Erfurter Ausländerbehörde erhielt, bis schließlich ein Aufenthaltstitel ausgestellt wurde.
 
Die Liste der Missstände in der Ausländerbehörde Erfurt ist endlos und Betroffene kämpfen bereits seit vielen Jahren um eine Verbesserung der Zustände. Diese Kämpfe sollten alle Erfurter:innen unterstützen. Allein schon die in die Länge gezogenen Bearbeitungszeiten lassen die Betroffenen in einer untragbaren Ungewissheit über ihre Zukunft und sind Barrieren für ein integratives und soziales Miteinander. 
 
Die Stadt Erfurt hat der Ausländerbehörde bereits vor Jahren finanzielle Mittel für mehr Stellen zugesprochen. Geschehen ist nichts, weil die Ausländerbehörde in ihren momentanen Räumlichkeiten rechtlich gar nicht mehr Menschen einstellen darf. Die Stadt hat auf die mangelhafte Raumsituation – auch hier durch Druck zivilgesellschaftlicher Akteur:innen – reagiert und der Ausländerbehörde zum Sommer 2023 eine größere Räumlichkeit zugeteilt. Nicht geklärt ist bisher, ob und wie diese für eine Verbesserung der Situation von Betroffenen genutzt werden wird.
 
Bereits 2018 wurde ein Integrationskonzept von der Landeshauptstadt Erfurt erstellt, in dem Maßnahmen wie “ein regelmäßiges Angebot von interkulturellen Weiterbildungen und Schulungen” für Mitarbeitende ebenso wie zum Beispiel “Übersetzungshilfen und mehrsprachige Formulare” explizit genannt werden. Aus diesen Empfehlungen sind bis jetzt keine umgesetzt und dadurch keine Verbesserungen für die Betroffenen erwachsen – wie kann das sein?
 
Unsere Forderungen
 
Wir fordern die Umsetzung von vier Maßnahmen – die sich jetzt, sofort, von der Stadt Erfurt umsetzen lassen! Wir akzeptieren keine Ausreden mehr und fordern:
 
1. Die sofortige Ausschreibung der unbesetzten Stellen!
Unbesetzte und neuen Stellen bei der Erfurter Ausländerbehörde sollen sofort ausgeschrieben werden, um sie schnellstmöglich zu besetzen. Die Stellen sollen EXTERN ausgeschrieben werden, Migrant:innen und Menschen mit Migrationsgeschichte sollen explizit angesprochen und eingestellt werden. Neues Personal soll eine Sensibilität für die Lebensrealitäten und Alltag von Migrant*innen, der in Deutschland oft von Rassismus geprägt ist, mitbringen, mindestens eine weitere Sprache sprechen und auch bereit sein, sie anzuwenden. Wenn es zur Stellenbesetzung notwenig ist, müssen zur Überbrückung kurzfristig weitere Räumlichkeiten angemietet werden.
 
2. Die sofortige Umgestaltung der Website der Ausländerbehörde Erfurt! Das meint die Übersetzung der Website, inklusive aller ihrer Funktionen in die erforderlichen Sprachen sowie in leichte Sprache – dass das im Jahr 2022 noch kein Standard ist, ist nicht inklusiv und unprofessionell – sowie eine barrierefreie, einfache und übersichtliche Oberfläche und Anwendung. Die Onlinepräsenz der Ausländerbehörde sollte hierfür separat und unabhängig von anderen Websiten der Stadt Erfurt gestaltet sein.
 
3. Die sofortige Verankerung einer sich in der Ausländerbehörde befindlichen, mit externem Personal besetzten Beschwerdestelle für diskriminierendes und sonstiges Fehlverhalten des Personals im Haushalt! Was in anderen Städten Standard ist, muss auch und gerade in Erfurt etabliert werden. Wenn die Stadt es ernst meint mit dem “Kampf gegen Rassismus” in der Landeshauptstadt, muss sie mit gutem Beispiel in den eigenen Behörden voran gehen!
 
4. Die umgehende Bereitstellung aller Antragsformulare und Informationsblätter in den erforderlichen Sprachen! Diese Materialien sollten entsprechend der sprachlichen Bedürfnisse der Menschen, die auf die Erfurter Ausländerbehörde angewiesen sind, erstellt, angeboten und verwendet werden. Für betroffenenrelevante Themen, zu denen es kein Informationsmaterial gibt, fordern wir dies endlich ein.
 
Die genannten Forderungen müssen und können jetzt umgesetzt werden. Die Situation für Menschen, die auf die Ausländerbehörde Erfurt angewiesen sind, ist nicht länger tragbar. Wir können keine Ausreden mehr hören und fordern zum Handeln auf – jetzt!
 
Weiter fordern wir eine Selbstverpflichtung der Verantwortlichen, bis zum Umzug der Ausländerbehörde folgende Maßnahmen umzusetzen:
 
  • (Wieder-)Herstellung der Arbeitsfähigkeit: Grundsätzliche Standards müssen erfüllt werden- und zwar nicht erst in einem Jahr! Das betrifft z.B. die Umsetzung von Familiennachzügen und die Ausstellung von Aufenthaltstiteln und Niederlassungserlaubnissen innerhalb zumutbarer Wartezeiten. Die Mitarbeitenden der Ausländerbehörde sollen ihren Ermessensspielraum zugunsten der Betroffenen nutzen – in vielen Fällen würde das den bürokratischen Aufwand und Stress für alle Beteiligten minimieren! Es braucht persönliche Termine und bessere Erreichbarkeit.
  • Diskriminierung und Rassismus in der Ausländerbehörde entgegentreten, transkulturelle Sensibilität fördern! Die Arbeit in der Ausländerbehörde Erfurt scheint zur Zeit von mangelnder Professionalität und Empathie, von Indifferenz und möglicherweise Hass gegenüber den Menschen geprägt zu sein, die auf die Arbeit dieser Behörde angewiesen sind. Dies kann und muss sich so bald wie möglich ändern. Die Mitarbeitenden der Ausländerbehörde sollen fachlich fundiertes Wissen über die spezifischen Situationen und Möglichkeiten der Menschen besitzen. Neues und altes Personal muss für die Probleme von Migrant:innen sensibilisiert werden, sich mit strukturellem, institutionellem und persönlichem Rassismus auseinandersetzen und durch regelmäßige externe Schulungen für die Arbeit qualifiziert werden – so wie es die Integrationskonzepte des Landes Thüringen (2017) und der Stadt Erfurt (2018) vorsehen.
Betroffene Menschen müssen in die Entwicklungen mit einbezogen werden. Hören Sie sich die Probleme der Menschen an – oft haben wir selbst Ansätze für Lösungen, nur keine Chance diese umzusetzen. 
 
Wir sind Menschen, keine Akten!